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Offenbarung Johannis. Sie ist in ihrer Überschrift Offb. 1, 1, als die von Gott Jesu für seine Knechte gegebene Enthüllung (Apokalypse) beschrieben. Es sind uns teils die himmlischen Dinge verborgen und ohne göttliche Enthüllung unzugänglich, teils aber auch das, was vor unseren Augen auf Erden geschieht, da uns der Lauf der Geschichte wohl nach seinem äußeren Hergang, aber nicht nach seinem inneren Wesen und nicht nach dem Ziel, zu dem er geleitet wird, wahrnehmbar ist. In allen drei Beziehungen bringt die Offenbarung Johannis in das, was uns verhüllt ist, Licht. Sie öffnet uns einen Blick in den Himmel und zeigt, wie das, was auf Erden geschieht, im Himmel anhebt und die Nachwirkung himmlischer Vorgänge ist, wie alles auch wieder in den Himmel zurückwirkt im Lob und Preis der himmlischen Wesen. Wir sollen so Himmel und Erde in ihrem Zusammenhang fassen und die irdische Geschichte vom himmlischen Standpunkt aus betrachten lernen.
Die Offenbarung Johannis beleuchtet weiter das menschliche Handeln bis in seinen innersten Grund, so wie es vor Gott ist, und zwar sowohl das Wesen der Gemeinde Christi, Kap. Offb. 1–3. Offb. 7. Offb. 12, als das ungöttliche Treiben der Menschen, das Tier und das falsche Lamm, Kap. Offb. 13. Offb. 17, damit wir die Erscheinungen der Geschichte nach ihrem göttlichen oder widergöttlichen Wesen, Ursprung und Ziel erkennen und beurteilen lernen. Und alle diese himmlischen und irdischen Vorgänge, alle diese göttlichen und menschlichen Handlungen sind in ihrem festen Zusammenhang erkennbar gemacht, wie sie alle auf die künftige Offenbarung der vollkommenen Herrlichkeit Gottes an seiner verklärten Gemeinde hinwirken als auf ihr einiges Ziel; so weist das Buch weissagend in die Zukunft hinaus zur Begründung der lebendigen Hoffnung in Christo.
— Die Form, in der diese Enthüllungen gegeben werden, ist das Gesicht, d. h. es treten vor die Seele des Johannes Bilder, durch die ihm das Göttliche, Menschliche und Teuflische in den Formen und Figuren der irdischen Natur sichtbar und hörbar wird. Auch diese Weissagung schaut also in einem Spiegel, nicht von Angesicht zu Angesicht, 1Kor. 13, 12; denn sie führt uns die himmlischen und irdischen, gegenwärtigen und künftigen Dinge nicht in ihrer eigenen Gestalt mit ihrem eigenen Namen, sondern in Abbildungen vor, die der uns bekannten Natur entnommen sind. Daher ist die Offenbarung Johannis ein fortgesetztes, ununterbrochenes Gleichnis, ein großes, wunderbares Gedicht, nur dass dabei nicht an willkürliche Spielerei der Phantasie zu denken ist; vielmehr treffen die Bilder, in denen hier die göttlichen Dinge angeschaut sind, das Wesen derselben und erschließen uns ihr Verständnis. Dieses Gedicht ist aus der Wahrheit und führt in sie.
— Als Mittel, um die göttlichen Dinge zur Darstellung zu bringen, dienen der Offenbarung Johannis wesentlich auch die alttestamentliche Weissagung und Geschichte. Sie zitiert kein einziges Wort des Alten Testaments ausdrücklich, aber sie erinnert beständig an dasselbe und ist von Rückbeziehungen auf dasselbe durchwoben. Dies ist zum Teil durch den prophetischen Inhalt des Alten Testaments bedingt. In der Offenbarung Johannis ist alle frühere Weissagung zusammengefasst und zu neuem Reichtum entfaltet, indem sie mit demjenigen Einblick in Gottes Rat verschmolzen wird, den die neutestamentliche Gemeinde durch die Sendung Christi empfangen hat. Zugleich kommt aber in Betracht, dass die alttestamentliche Gestalt des göttlichen Reichs überhaupt einen bildlichen Charakter an sich hat, der mit dem Wesen der Vision in Übereinstimmung steht. Das Geistige ist alttestamentlich in äußere, natürliche Formen und Einrichtungen gefasst; die wahre Gemeinde Gottes, die es nach Geist und Wahrheit ist, ist in das natürliche Volkstum Israels mit seiner heiligen Stadt eingeschlossen und dadurch sichtbar gemacht; die Gnadengegenwart Gottes hat im Tempel und Altar ihre wahrnehmbare Darstellung. So bieten sich die alttestamentlichen Dinge der Vision als die anschaulichen Zeichen der göttlichen Gedanken dar.
— Der bildliche Charakter der Offenbarung Johannis bewirkt, dass sie in allen ihren Aussagen der Deutung bedarf. Sie gibt selbst dazu Anleitung, wenn sie sagt: die Leuchter seien Gemeinden, die Sterne ihre Engel, Offb. 1, 20, die geistlich Sodom und Ägypten genannte Stadt sei die, in der Jesus gekreuzigt wurde, also Jerusalem, Offb. 11, 8, die 7 Köpfe, auf denen die Hure sitzt, seien 7 Berge und zugleich 7 Könige, Offb. 17, 9, wodurch die Hure deutlich auf Rom bezogen ist usw. Auch die Zahlen des Buchs, die Siebenzahl (7 Geister Gottes, 7 Gemeinden, 7 Siegel, 7 Posaunen, 7 Zornesschalen), die halbe Siebenzahl (3½ Jahre oder Tage, Offb. 11, 3. Offb. 11, 9; Offb. 13, 5), die Zwölfzahl (144000 Auserwählte, 12 Grundsteine und Tore am himmlischen Jerusalem, vergleiche Offb. 21, 16. Offb. 21, 17), die tausend Jahre, Offb. 20, 2, sind alle symbolisch gedacht. Wir müssen also bei allen Aussagen der Offenbarung Johannis erst hinter ihrem Wortlaut die durch ihn bezeichnete Sache suchen, und darin liegt die Schwierigkeit ihrer Auslegung. Zwei Abwege sind dabei zu vermeiden. Wir dürfen einmal das Bild nicht unmittelbar für die Sache selbst nehmen. Die Offenbarung Johannis will zum Beispiel Offb. 1, 14 nicht sagen, dass Christus in seiner Herrlichkeit schneeweißes Haar habe, sondern sie deutet damit an, dass er, der ewige, den Strom der Zeit schon längst an sich vorübergehen sah; sie will Offb. 11, 19 nicht lehren, dass die Bundeslade im Himmel aufbewahrt sei, und in einem künftigen Zeitpunkt sichtbar werde, sondern sie spricht damit aus, dass mit der Vollendung des göttlichen Werks das innerste Heiligtum Gottes uns erschlossen wird und die Güter seines Bundes uns zugänglich und offen stehen; sie meint Offb. 21, 16 nicht, dass das neue Jerusalem eine Stadt in Würfelform sei, so hoch als lang und breit, sie weist damit nur auf die Form des Allerheiligsten zurück, das nun in der vollendeten Gemeinde sein vollkommenes Gegenbild erhalten hat usw. Dabei ist aber der andere Abweg zu vermeiden, dass wir diesen Bildern eine leere, schattenhafte Auflösung geben, so dass uns hinter denselben keine Wirklichkeit bleibt, die in ihnen zur Abbildung gelangt. Es prägen sich in ihnen göttliche Realitäten aus. Wir haben freilich nach Offb. 4, 6 keine Tiere vor Gottes Thron zu suchen, aber dass auch die natürliche Schöpfung bis zu Gottes Thron hinaufreicht und der Chor um denselben her nicht nur aus den Ältesten der erlösten Menschheit, sondern auch aus den obersten Kräften der Natur besteht, dahinter steht eine mächtige Realität. Wir haben nicht zu erwarten, dass einst Posaunenstöße hörbar die Welt durchschallen, aber deshalb sind dieselben nicht ein leeres Bild; dass die abschließenden Gerichte Gottes nicht ohne sehr bestimmte Mahnzeichen kommen, die einem Posaunenstoß vergleichbar ihre Nähe kundtun, das ist eine ernste Wahrheit. Wir haben nicht zu erwarten, dass diese Mahnzeichen der Zahl nach gerade sieben seien; aber dass Gott in heiliger Vollzahl seine Warnungen gibt, das ist durch seine treue Gerechtigkeit verbürgt. Allerdings ist hierbei die Grenze, welche die Auslegung innezuhalten hat, oft schwer bestimmbar. Die Leser und Ausleger der Offenbarung Johannis werden sich immer in zwei Gruppen teilen, von denen die eine kühn ihre Zeichen zu entfalten sucht und in ihrer Deutung durch eingetragene Beziehungen zu viel tut, die andere gegen willkürliche Ausdeutungen vorsichtig bei den nächstliegenden Beziehungen auf die apostolische Zeit stehen bleibt und damit die Bedeutsamkeit dieser Bilder nicht erschöpft.
— Die Grundwahrheit, welche die Offenbarung Johannis bezeugen will, ist die, dass Jesus kommt. Damit beginnt sie Offb. 1, 7 und schließt sie Offb. 22, 20. Nicht wann, wohl aber wie er kommt, will sie zeigen. Das ist der Inhalt ihres Hauptteils, Kap. Offb. 4–20. Derselbe ist umschlossen von einem Gesicht, das den Ausgangspunkt, und von einem solchen, das den Endpunkt des künftigen Werkes Christi offenbart. Jenes, Kap. Offb. 1, 9–3, 22, stellt die Gemeinde dar, wie sie Jesus durch sein erstes Kommen, Sterben und Auferstehen gegründet und erworben hat. Es zeigt die Gegenwart Christi in seiner Kirche. Dazu werden 7 Gemeinden Kleinasiens ausgewählt, um an ihrer verschiedenen Beschaffenheit zu zeigen, wie Jesus in heiliger Gnade richtend und regierend den Gemeinden nahe ist, wie er über sie urteilt, sie mahnt, straft, lobt und krönt. Es ist dies keineswegs nur ein nebensächlicher Abschnitt der Offenbarung Johannis, sondern ein grundlegender Teil derselben. Der Ort, wo Christus sein Werk hat, ist seine Gemeinde, für sie kommt er. Darum wird, ehe die Völkerwelt in ihrem Verhältnis zu Gott dargestellt wird, zuallererst die Stellung Christi zu seinen Gemeinden aufgedeckt. Das Schlussgesicht Kap. Offb. 21 und Offb. 22 schaut das ewige Endergebnis des göttlichen Werks, die vollendete Gemeinde im neuen Himmel und der neuen Erde im Bilde des neuen Jerusalems. Aber beide Gesichte, sowohl das, welches die gegenwärtige, als das, welches die vollendete Gemeinde darstellt, sind relativ kurz gehalten; der Hauptnachdruck fällt auf das, was zwischen beiden in der Mitte liegt und von dieser zu jener überführt, nämlich darauf, dass und wie Jesus kommt. — Für den Hauptteil des Buchs ist Kap. Offb. 4 und Offb. 5 das grundlegende Gesicht: das versiegelte Buch des göttlichen Rats, das sonst niemand entsiegeln kann, wird vom Lamme geöffnet; Johannes sieht also, dass Jesus in Kraft seines Todes den vollkommenen Einblick in den göttlichen Rat und seine Ausführung, was beides voneinander nicht trennbar ist, erlangt hat. In Jesu Hand liegt nun Gottes Werk in der Welt bis zur Vollendung hinaus. In dem Maß, wie Jesus die Siegel des himmlischen Buches löst, schreiten die Ereignisse auf Erden fort, und zwar entspricht der Lösung des Siegels in unmittelbarer Folge die göttliche Tat. Die Öffnung des Buchs, Kap. Offb. 6, bringt Krieg, Hunger, Tod, Verfolgung der Gemeinde, die ihr Leben opfern muss, und Katastrophen der Natur hervor, die sie in ihrem ganzen Bestand erschüttern.
Die Offenbarung Johannis wiederholt und bestätigt also, was Jesus weissagend seinen Jüngern auf dem Ölberg sagt, Matth. 24. Wie Jesus seine Jünger darauf vorbereitete, dass die Zeit seiner himmlischen Erhöhung einen Charakter haben werde, der ihren Erwartungen direkt widerstreite, dass sie ihnen noch nicht Frieden, Freude, Herrlichkeit bringen werde, sondern Not, Streit, Leiden, so ist auch für die Offenbarung Johannis dies eine Hauptwahrheit, die sie bezeugen will, dass vor der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes seine Gerichte stehen; aber der Ruin und die Zerstörung, die sie bewirken, ist nicht eine Schranke und Hinderung des Werkes Christi, vielmehr gerade so kommt der Herr. Jene zeigen an, dass Jesus die Siegel des göttlichen Buches löst, und mitten in denselben bleibt seine Gemeinde in ihrem vollen Bestande ohne Schaden und Verlust bewahrt, ja sie wird zur unzählbaren Schar, Kap. Offb. 7. Mit der Öffnung des siebenten Siegels beginnen sieben Posaunenstöße. Die Lösung des letzten Siegels, mit der also das ganze Buch offen ist, scheint die letzte, abschließende Tat Gottes bringen zu müssen. Nun ist allerdings der Posaunenschall die direktere, ausdrücklichere Ankündigung des Endes als die Öffnung der Siegel, aber doch immer noch Vorbereitung. Dem Posaunenstoß im Himmel entspricht auf Erden neue, gesteigerte Not mit immer ausgeprägterem, gerichtlichem Charakter: Erde, Meer, Ströme und Gestirne werden getroffen, Heere von Geistern und Menschen brechen ein, Kap. Offb. 8 und Offb. 9. Die Offenbarung Johannis betont, dass das Ende, auch wenn es unmittelbar bevorstehend scheint, wieder in die Ferne tritt, dass die Not sich häuft und Gericht aus Gericht sich entfaltet; sie ein Wort der Geduld, Offb. 3, 10. Zwischen die sechste und siebente Posaune ist ein Zwischengesicht eingeschoben, Offb. 10, 1–11, 14, das den Fall Jerusalems und das Israel nochmals gewährte Zeugnis Gottes zur Darstellung bringt. Im großen Gegensatz der Weltgeschichte — dort die Völkerwelt in ihrer Unkenntnis Gottes, hier die Gemeinde Christi — nimmt Israel eine Zwischenstellung ein, und so wird auch sein Geschick in einem zwischeneingeschobenen Bilde dargestellt. Auch die letzte Posaune bringt das Ende noch nicht. Wie sich die sieben Posaunenstöße zur Öffnung des letzten Siegels verhalten, so schließt sich an die letzte Posaune die Ausgießung von sieben Zornesschalen auf die Erde. Indem der Zorn Gottes wirksam auf die Erde niederströmt, ist das Ende näher als bei den dasselbe ankündigenden Posaunen, aber die letzte, vollendende Tat Gottes ist auch dies noch nicht; es ist ja noch Zorn, nicht Gnade und Herrlichkeit. Ehe aber der infolge der letzten Posaune wirksam werdende Zorn Gottes dargestellt wird, wird der Zustand der Dinge auf Erden dargestellt und so erklärt, warum der Zorn Gottes an ihr sich betätigen muss: zuerst das Weib, das den Christus geboren hat, und darum vom Drachen verfolgt, von Gott aber gerettet wird, Kap. Offb. 12, die Gemeinde Gottes in der Einheit des alt- und neutestamentlichen Gottesvolks, sodann das Tier, Kap. Offb. 13, die Gott entfremdete, brutale Menschenmacht, wobei, wie Kap. Offb. 17 zeigt, zunächst an das durch Babylon bezeichnete Rom gedacht ist. Die römische Weltherrschaft war die der apostolischen Zeit gegenwärtige und großartigste Ausgestaltung der Menschenkraft in ihrer gottlosen, gegen Christus kämpfenden, das Tier hervorkehrenden Richtung. Über das Haupt, in dem sie sich zusammenfasst, vergleiche den Art. Antichrist. Dem Raubtier zur Seite steht ein dem Lamme ähnliches Tier, das aber wie der Drache spricht, die falsche, göttlich gefärbte und teuflisch geartete Geistesmacht, die nicht Freiheit von der Anbetung des Tieres ist, sondern ihrerseits dem Raubtier dient. Als Gegensatz dazu zeigt Kap. Offb. 14 das wahre Lamm und seine Gemeinde um dasselbe her. Jenen ungöttlichen Gebilden der Geschichte gilt Gottes Zorn, und ihren Abschluss finden seine Gerichte im siegreichen Kommen Christi, Offb. 19, 11. Daran schließt sich sein königliches Walten mit seiner aus dem Tode erhöhten Gemeinde als Übergang zur vollendeten Weltgestalt. Die Offenbarung Johannis deutet aber an, dass auch dieser Übergang sich wieder in einer Krisis durch einen satanisch erregten Kampf vollzieht. So endet das Buch im Ausblick auf die in Einigung des Himmels und der Erde neu gebildete Welt, aus welchem nun die Schlussbitte desselben: Komm, Herr Jesu! ihre volle Kraft gewinnt.
— Über die Person des Johannes, welcher der Empfänger dieser Offenbarung Johannis war und dieselbe zunächst den sieben kleinasiatischen Gemeinden schriftlich übermittelte, ging die herrschende Ansicht der alten Kirche dahin, dass er der Apostel, der Verfasser des vierten Evangeliums sei. Auf diesen weist auch die spätere Überschrift: Offenbarung Johannis des Theologen. Theologe, der, welcher über Gottes Wesen Belehrung gibt, heißt er nicht um der Offenbarung Johannis willen, sondern mit Bezug auf den Eingang zum Evangelium. Man hat zwar, veranlasst durch die eigentümliche sprachliche Färbung, welche die Offenbarung Johannis hat, und zugleich durch Unterschiede im geistigen Charakter der beiden Schriften in alter und neuer Zeit zum Teil bezweifelt, ob wirklich beide Schriften vom Apostel Johannes herrühren. Allein diese Unterschiede zwischen beiden Schriften sind von einer starken geistigen Einheit getragen. In sprachlicher Hinsicht teilt das Evangelium mit der Offenbarung Johannis die energische Anpassung des Griechischen an die hebräische Gedankenform. Dies tritt allerdings der Offenbarung Johannis noch greller hervor, sie ist völlig hebräisch gedacht; aber auch das Evangelium nimmt aus der griechischen Rede nur das auf, was unmittelbar Wiedergabe hebräischer Begriffe und Gedankenverknüpfungen ist. Sagt man, es sei schwer denkbar, dass der Apostel der Liebe zugleich der Empfänger dieser Gesichte sei, welche den Zorn Gottes in steigenden Strömen sich auf die Erde ergießen sehe, so wird nicht erwogen, dass die Liebe Gottes im Evangelium zur Finsternis der Welt in unversöhnlichem Gegensatz steht. Auch das Evangelium scheidet mit durchdringender Schärfe zwischen Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Gottes Kindern und des Teufels Kindern, und zwischen beiden gibt es keine Vermittlung; über diesen bleibt Gottes Zorn und sie erfahren ihn dadurch, dass sie in ihren Sünden sterben. Andererseits ist auch in der Offenbarung Johannis aller Zorneserguß nur dienendes Werkzeug für die Auswirkung der gebenden, schaffenden Gnade. Neben der vernichteten Hure und dem ins Feuer geworfenen Tier steht die Gemeinde als die von Gott geliebte, begabt mit Christi Herrlichkeit und aller Güter Gottes teilhaft. Das Urteil, die Offenbarung Johannis denke sinnlich, das Evangelium geistig, ist nur dann möglich, wenn durch eine grob sinnliche Deutung der Offenbarung Johannis die Kraft durchdringenden Tiefblicks übersehen wird, die ihre Bilder gestaltet; andererseits verleugnet auch das Evangelium die dichterische Plastik, die in der Offenbarung Johannis sich äußert, nicht; es besteht ganz ähnlich wie die Offenbarung Johannis aus einer Reihe einzelner Bilder, die in wenigen Zügen, aber in vollendeter Anschaulichkeit die Fülle Jesu sichtbar machen, und auch hier verweilt Johannes gern bei der inneren Bedeutsamkeit der einzelnen äußeren Ereignisse, die ihnen einen symbolischen Charakter gibt. Es besteht darum kein durchschlagender Grund, der das Urteil jener Männer, welche die neutestamentlichen Schriften sammelten und zum Neuen Testament vereinigten, als irrtümlich erwiese.
Über die Zeit, in welche die Offenbarung Johannis fällt, bestehen zwei Ansichten. Die ältere, die sich an den Bericht alter Lehrer der Kirche (Irenäus) anschließt, verlegt sie in die Zeit Domitians († 96); andere denken mit Beziehung auf die Weise, wie Offb. 11, 1ff von der Herrschaft der Heiden über Jerusalem geredet wird, und mit Beziehung auf die sieben Könige Babylons (Roms), an die Zeit kurz vor der Zerstörung Jerusalems, entweder an das Jahr 68 oder 69. Als Ort, wo die Offenbarung Johannis geschaut wurde, ist Offb. 1, 9 das kleine Inselchen Patmos genannt (vergleiche den Art.). Johannes sagt, er sei dort gewesen um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen. Eine alte Überlieferung hat dies so verstanden, dass Johannes in einer Christenverfolgung dorthin verbannt worden sei, wie er von solchen spricht, die um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen enthauptet worden sind, Offb. 20, 4; Offb. 6, 9. Doch ist diese Deutung nicht sicher; denn in der Überschrift des Buchs Offb. 1, 2 nennt Johannes die ihm göttlich mitgeteilte Offenbarung „Gottes Wort und Jesu Zeugnis“. Vielleicht will Johannes sagen, dass er, um die Offenbarung zu empfangen, vom Herrn nach Patmos gesandt worden sei. Ist die Offenbarung Johannis kurz vor der Zerstörung Jerusalems geschrieben, so lässt sich unschwer erkennen, welche Stärkung sie den Gemeinden in ihrer damaligen Lage bot. Sie hatten die neronische Verfolgung hinter sich, die erschütternden Ereignisse in Judäa vor sich, wo die heidnische Weltmacht die alte Gemeinde Gottes niedertrat, dasselbe Rom, das auch mit der christlichen Gemeinde einen blutigen Kampf begonnen hatte. Ringsum war Not, Ruin, Gericht. Da durfte Johannes den Gemeinden diesen Triumphgesang senden, der mitten in der Darstellung der Gerichte etwas vom himmlischen Siegeslied hörbar machte. Sie hat aber wie alles Wort Gottes eine unvergängliche Wichtigkeit, so gewiss es keine wahrhaftige Hoffnung gibt als die auf Jesu Gegenwart und Königtum gerichtete. Ihre bleibende Bedeutung für die Kirche aller Zeiten besteht aber nicht darin, dass sie uns die Zukunft voraus erkennen ließe. Die vielen verkehrten Deutungen derselben haben hinlänglich gezeigt, dass sie das weder kann noch will. Wohl aber setzt sie die Kirche aller Zeiten in Stand, die Ereignisse, so wie sie geschehen, zu beurteilen nach ihrem Grund und Ziel und zu erkennen, dass, wenn der Feigenbaum ausschlägt, der Frühling kommt, Mark. 13, 28. Wer sie neugierig liest, als müssten ihm alle Geheimnisse Gottes offen stehen, der wird sie sich zur Torheit lesen; wer sie aber um der Hoffnung willen liest, die nach Gottes Reich verlangt, dem wird sie das Auge öffnen für Jesu Herrlichkeit und Gottes Gnade und Gerechtigkeit.
Ad. Schlatter.
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About Calwer Bibellexikon: Biblisches Handwörterbuch illustriertDas Calwer Bibellexikon ist einer der bekanntesten Namen unter den deutschsprachigen Bibellexika. Laut Vorwort ist es als ein Handbuch für den nachdenkenden Bibelleser, Geistlichen oder Religionslehrer gedacht. Das Nachschlagewerk soll es dem Leser ermöglichen, ein „eben gelesenes Bibelwort als ein Glied in das ganze Gebäude seiner biblischen Anschauungs- und Gedankenwelt“ einzufügen. Der Herausgeber Paul Zeller merkt zudem an, das Werk sei „in dem einen Geist demütiger Ehrfurcht vor dem Worte Gottes und herzlicher Liebe zu der heiligen Schrift“ entstanden (Vorwort 2. Aufl.). Das Calwer Bibellexikon erschien zum ersten Mal im Jahr 1884, die zweite Auflage 1893, beide erfreuten sich großer Nachfrage. Die hier verfügbare dritte Auflage (1912) ist das Ergebnis einer umfassenderen Umarbeitung und teils auch Verkürzung. Der Herausgeber und die Mitwirkenden stammten zumeist aus der Württembergischen Landeskirche und der Schweiz. Bekannt war es auch unter dem alternativen Titel „Biblisches Handwörterbuch, illustriert“. |
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